Der Beginn der medizinischen Radiologie in Deutschland

Teil 2: Von ersten Reaktionen zu neuen Kooperationen und Kommunikationswegen

von Dr. Uwe Busch, Deutsches Röntgen-Museum, Remscheid

Im Laufe des 19. Jahrhunderts entstanden in Deutschland mehrere wichtige Innovationszentren für die Röntgenwissenschaften. Die wichtigsten Zentren befanden sich in Berlin, Hamburg, Braunschweig, Wiesbaden, Halle (Saale), Gehlberg, Frankfurt, Würzburg, Freiburg, Erlangen und München.

Die industrielle Revolution durch Röntgens Entdeckung

„Läßt man durch eine Hittorf’sche Vacuumröhre, oder einen genügend evacuierten Lenard’schen, Crookes’schen oder ähnlichen Apparat die Entladungen eines grösseren Ruhmkorff’s gehen …“. Mit diesen Worten beginnt die berühmte erste Abhandlung Röntgens zu den neu entdeckten X-Strahlen. Mit der Beschreibung spezieller Gasentladungsröhren beschreibt Röntgen zugleich die wichtigste apparative Grundlage, die zur Entdeckung führte.

Die Produktion von technischen Gläsern hatte im Thüringer Wald vornehmlich in Stützerbach und Gehlberg eine lange Tradition. Die Firma Emil Gundelach in Gehlberg produzierte und lieferte weltweit dabei einen Großteil der für die frühe Röntgendiagnostik benötigten Ionen-Röntgenröhren. Gundelachs Produkte wurden 1904 bei der Weltausstellung in St. Lous, USA mit dem „Grand Prize“ ausgezeichnet. Die Universität Karlsruhe ernannte den Sohn des Firmengründers Max Gundelach (1858-1939) für seine besonderen Leistungen auf dem Gebiet der Entwicklung glastechnischer Produkte für Wissenschaft und Forschung 1922 zum Ehrensenator.

Andere Teile der deutschen Industrie reagierten ebenfalls sehr schnell auf die Entdeckung. In Erlangen begann man bereits im Frühjahr 1896 bei den „Vereinigten Physikalisch-Mechanischen Werkstätten Reiniger, Gebbert & Schall – Erlangen, New York, Stuttgart“ (RGS) mit dem Bau eigener Röntgengeräte. RGS wurde 1886 als Zusammenschluss der Erlanger Werkstatt Erwin Moritz Reiniger (1854-1909) und des Stuttgarter Betriebs von Max Gebbert (1856-1907) und Karl Friedrich Schall (1859-1925) gegründet. In enger Zusammenarbeit mit der Firma Emil Gundelach wurden in Gehlberg ab dem Frühjahr 1896 spezielle Röntgenröhren in Serie für den Vertrieb durch RGS produziert und geliefert.
Die Nachricht über die X-Strahlen gelangte über Röntgens persönlichen Kontakt zu dem Physiker Eilhard Wiedemann (1852-1928) nach Erlangen. In der Folgezeit und in enger Zusammenarbeit mit den Universitätsärzten wurden neue technische Geräte für die Röntgendiagnostik und später auch für die Strahlentherapie entwickelt und vertrieben. An der Universitäts-Frauenklinik in Erlangen wurde in der zweiten Dekade des 20. Jahrhunderts durch die Gynäkologen Hermann Wintz (1887-1947) und Ludwig Seitz (1872-1961) die wissenschaftlich basierte Strahlentherapie entwickelt. RGS und Siemens & Halske schlossen unter weiteren Fusionen zu dem heutigen Unternehmen Siemens Healthineers zusammen.

Unmittelbar nachdem Berliner Zeitungen über den Vortrag Röntgens bei Kaiser Wilhelm II berichteten, schickte der AEG-Chef Emil Rathenau (1838-1915) seinen Ingenieur Max Levy (1869-1932) nach Würzburg, um dort mit Röntgen über eine exklusive kommerzielle technische Verwertung der Röntgenstrahlen durch die AEG zu sprechen. Die Verhandlungen blieben aber ohne Ergebnis, da Röntgen der festen Überzeugung war, dass seine Entdeckung der der ganzen Welt gehöre. Zudem wolle er die Entwicklung der Röntgentechnik nicht durch Patente behindern.
Zurück in Berlin, wurde Levy mit der Leitung der neugegründeten Röntgenabteilung der AEG beauftragt. Während seiner Arbeit konnte er zahlreiche technische Verbesserungen bei Röntgenröhren und Leuchtschirmen erzielen. Durch eine doppelseitige Belegung mit einer lichtempfindlichen Schicht bei den verwendeten Glasfotoplatten und Filmen konnte er eine wesentlich höhere Qualität der Röntgenaufnahmen erzielen. Durch damit verbesserte Kontraste waren erstmals Gesamtaufnahmen innerer Organe möglich. Im Juli 1897 gründete Levy in Berlin eine Fabrik zur Herstellung von Röntgenapparaturen.

Neben der Elektrotechnik rückte die industrielle Fertigung von Röntgenröhren in den Fokus. 1862 baute der Glasbläser Carl Heinrich Florenz (CHF) Müller (1845-1912) in Hamburg eine Fabrik für Vakuumglasröhren und Lampen. Ab 1896 befasste sich das "C.H.F. Müller Röntgenwerk" mit der Röntgentechnik und spezialisierte sich als Fabrik auf die Herstellung von Röntgenröhren. 1927 wurde das "C.H.F. Müller Röntgenwerk" ein Teil des Philips Konzerns. Erste Tests der von Müller entwickelten Röntgenröhren wurden im Hamburger Landeslaboratorium durch den Physiker Bernhard Walter (1861-1950), der sich später auf Strahlenphysik spezialisierte, durchgeführt. Die ersten Röntgenaufnahmen machte Walter im Januar 1896 in Hamburg. Im Jahr 1905 wurde er Professor für Physik an der Universität Hamburg. Er war einer der ersten Wissenschaftler, der auf die Notwendigkeit von Strahlenschutzmaßnahmen für Patienten und Personal hinwies.

Neue interdisziplinäre Kooperationen

Vor allem neue interdisziplinäre Kooperationen trugen zum Fortschritt der Radiologie bei. In Hamburg begannen der Physiker Walter, der Industrielle Müller und der Mediziner Albers-Schönberg (1865-1921) eine sehr fruchtbare Zusammenarbeit. Gemeinsam wurden zahlreiche Neuentwicklungen in der Röntgentechnik für diagnostische und therapeutische Anwendungen durchgeführt. Gemeinsam entwickelt und in der Praxis evaluiert wurde dabei auch die erste Version einer wasserkühlten Röntgenröhre mit automatischer Regeneration. Diese und andere innovative Techniken machten den Namen "Röntgenmüller" weltweit bekannt.

Die Hamburger Connection zeichnete später auch Verantwortung für die Entwicklung und den klinischen Einsatz von Kompressionsblenden. Der Internist Heinrich Albers-Schönberg widmete sein gesamtes Berufsleben der Entwicklung der medizinischen Radiologie. Er wurde der erste Facharzt für Radiologie und war der Vater und Nestor der deutschen Radiologie als klinisch-wissenschaftliche Disziplin.

Ein weiteres Beispiel gelungener interdisziplinärer Kooperationen zwischen Industrie, Wissenschaftlern und Ärzten war die Zusammenarbeit zwischen dem AEG-Ingenieur Max Levy mit dem international anerkannten Gelehrten und Physiologen Emil Du Bois-Reymond (1818-1896) und dem Internisten und Chirurgen Emil Grunmach (1849-1919) in Berlin. Mit Hilfe von neu entwickelten Röntgenröhren und Durchleuchtungsschirmen wurden Untersuchungen bei Kranken und vergleichsweise auch bei Gesunden durchgeführt. Es gelang dabei, bei wichtigen Organen ihre Lage und Größe zu bestimmen und dabei auf dem Fluoreszenzschirm auch ihre Bewegungen zu studieren. Im weiteren Verlauf der Zusammenarbeit gelang es, Arteriosklerose mit Schatten in Aorta und Koronararterien, verkalkte Stellen in der Lunge, einen Lungentumor und maligne Tumoren des Magens radiologisch aufzuzeichnen. Frühe Ergebnisse wurden mit großem Aufsehen bereits im Juli 1896 beim Chirurgen-Kongress in Berlin einen Monat später beim Internationalen Physiologischen Kongress in München präsentiert.

Die Notwendigkeit neuer Kommunikationsmittel

Die praktische Vermittlung von theoretischem und vor allem praktischen Wissen erforderte neue Kommunikationskanäle. Zudem galt es die erforderlichen Fachkräfte nach dem Stand der Wissenschaft auszubilden. In einem ersten Schritt des Austauschs von Informationen gründeten 1897 Heinrich Albers-Schönberg und der ebenfalls am Allgemeinen Krankenhaus Hamburg Eppendorf beschäftigte Internist und Tuberkuloseforscher Georg Deycke (1865-1938) die erste deutsche radiologische Fachzeitschrift "Fortschritte auf dem Gebiete der Röntgenstrahlen", die bis heute das offizielle Publikationsorgan der Deutschen Röntgengesellschaft ist.
Die notwendigen neuen Kommunikationsmöglichkeiten in der Radiologie erforderten weiteren auch persönlichen kollegialen Austausch. Nach Gründung der Deutschen Röntgengesellschaft wurde 1905 der erste Deutsche Röntgenkongress in Berlin abgehalten. Die Gesellschaft hatte insbesondere die, jährliche Kongresse zum Informationsaustausch und zur Fort- und Weiterbildung zu veranstalten.

Verwendete und weiterführende Literatur

- Wintz H, Seitz L, Unsere Methode der Röntgen-Tiefentherapie und ihre Erfolge. Berlin, Wien 1920
- Radtke U. Gundelach – Geschichte. https://www.tubecollection.de/ura/gundelach-geschichte.htm
- Deutsche Biographie - Max Levy. https://www.deutsche-biographie.de/gnd136667724.html#ndbcontent
- LEVY M., Die Durchleuchtung des menschlichen Körpers mittels Röntgenstrahlen zu medizinisch-diagnostischen Zwecken. Vortrag, gehalten in der Berliner Physiolog. Ges. am 12. Juni 1896. Berlin: A. Hirschwald 1896.
- Fehr W, CHF Müller – mit Röntgen begann die Zukunft. CHF Müller im Selbstverlag, Hamburg 1981
- Bergmüller H, Erinnerungen an C.H.F. Müller. Philips im Selbstverlag, Hamburg 1990
- Stamer W., 100 Jahre Röntgenröhren. Philips im Selbstverlag, Hamburg 1995
- Siemens Healthcare (Hrsg.), Geschichten aus dem MedMuseum, Siemens Healthcare Eigenverlag, Erlangen 2018