von Dr. Uwe Busch, Deutsches Röntgen-Museum, Remscheid
Am 24. Februar 2014 jährte sich zum 75. Mal der Todestag des bedeutenden französischen Kinderarztes, Immunbiologen und Röntgenpioniers Antoine Béclère (1856-1939), der eine Schlüsselrolle bei der Geburt der Radiologie und der Strahlentherapie in Europa hatte. Ihm verdanken wir unter anderem auch die Bezeichnung "Radiologie".
Antoine Louis Gustave Béclère wurde am 17. März 1856 in Paris geboren. Schon früh zeigte er Begeisterung für die Arbeit seines Vaters, der als Arzt in Paris praktizierte. Mit 17 Jahren bewarb er sich für ein medizinisches Vorstudium und wurde Gasthörer in der chirurgischen Abteilung des Pariser Hôpital Lariboisière. Nach Abschluss seines Medizinstudiums wurde Béclère externer Mitarbeiter am Beaujon Hospital. Nach einem militärischen Volontariat in Lille kehrte er 1877 nach Paris zurück, um bei Professor N.A. Labric im Kinderkrankenhaus seine Doktorarbeit zu verfassen. Nach erfolgreichem Abschluss eröffnete er in Paris eine Kinderarztpraxis und war bekannt für seine große Fertigkeit in der Durchführung von Notfall-Tracheotomien bei Kindern. [1]
Die Einführung aseptischer Praktiken in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts brachte großen Veränderungen für die Medizin. Trotz vornehmlich praktischer Arbeit in seiner Kinderarztpraxis, doch beeinflusst durch die Arbeiten von Louis Pasteur (1822-1895) und Joseph Lister (1827-1912), galt sein besonderes Interesse ebenso der experimentellen Medizin in den Bereichen Immunologie und Virologie. Dabei widmete Béclère besondere Aufmerksamkeit der Analyse der Mechanismen des Immunsystems gegen Infektionskrankheiten. Beim Ausbruch der Pocken in Marseille 1895 injizierte er infizierten Patienten erfolgreich das vorher von Fräsen gewonnene Impfserum. Unter Zugrundelegung der Forschungsergebnisse des Physiologen und Neurologen Charles-Édouard Brown-Séquard (1817-1894) über das endokrine System führte Béclère erfolgreich Behandlungen von Myxödemen durch. Er kann deshalb als ein Pionier der modernen Endokrinologie betrachtet werden.
Die Geburt des Namens "Radiologie"
Wenige Tage nachdem die sensationelle Entdeckung der Röntgenstrahlen in Paris publik wurde, wiederholten der Mediziner Toussaint Barthélémy (1852-1906) und der Physiker Paul Oudin (1851-1923) Röntgens Experimente. Der bedeutende französische Mathematiker, Physiker und Philosoph Henri Poincaré (1854-1912) demonstrierte das dabei entstandene erste Röntgenbild bei einer Sitzung der französischen Akademie der Wissenschaften am 20. Januar 1896. Euphorisch wurden weitere Versuche unternommen. Béclère nahm an einer der frühen Demonstrationen zu Röntgenstrahlen im Haus von Oudin teil. Er war sofort von dem enormen Potential für medizinische Anwendungen überzeugt und machte sich umgehend mit ihren physikalischen Grundlagen vertraut. Mehr noch: Es schien ihm wie eine Straße in das gelobte Land, von der er Gebrauch machen werde. Mit Hilfe des genialen Ingenieurs L. Drault erwarb er das erforderliche Equipment und installierte es in seinem Pariser Haus in der Rue Scribe 5. Enthusiastisch begann er sich mit der neuen Technik zu beschäftigen. Erste Aufnahmen entstanden, wobei die belichteten Glasplatten nach Hause getragen und abends von Madame Béclère entwickelt wurden. Mittlerweile vollkommen überzeugt von der Bedeutung der neuen Methoden schlug er den Begriff „Radiologie“ für das neue medizinische Spezialfach vor. Zu seinen ersten radiologischen Interessen gehörte die Untersuchung eines Hydro-Pneumothorax und der Lungentuberkulose. Gemeinsam mit Barthélemy und Oudin demonstrierte er am 5. Februar 1897 den radiologischen Befund eines Aorten-Aneurysmas. Er zeigte dabei, dass so mit Leichtigkeit u. a Zwerchfellbewegungen, tracheobronchiale Adenopathien und interlobäre Effusionen beobachtet werden konnten. [2]
Die Entstehung einer neuen medizinischen Fachrichtung
1897 wurde Béclère zum klinischen Direktor am Pariser Hôpital Tenon ernannt. Auf eigene Kosten ließ er sofort eine Röntgenanlage für die allgemeine medizinische Diagnostik installieren. Zu einem Schwerpunkt seiner radiologischen Forschungen wurde die Thoraxdiagnostik. [3] Im Juli 1898 präsentiert er auf dem vierten internationalen Kongress für Tuberkulose in Paris die Bedeutung der Thorax-Fluoroskopie in der Diagnose der pulmonalen Tuberkulose. 1899 erscheint sein bemerkenswertes Buch über die radiologische Diagnostik der Tuberkulose. [4]
Trotz der Vorwürfe einiger Kollegen, er würde die Ärzteschaft durch seine fotografischen Tätigkeiten entehren, ließ ihn dies nicht von seinem Weg abweichen. Neben seiner ärztlichen Tätigkeit und seinen Forschungen widmete er ebenso großes Augenmerk auf die Ausbildung des ärztlichen Nachwuchses. Am Hôpital Tenon organisierte und führte er als erster Lehrveranstaltungen zur medizinischen Radiologie durch. Er baute hier eine Bibliothek mit radiologischer Literatur, Fallsammlungen für Lehrzwecke und Wachsmodellen mit strahleninduzierten Hautläsionen auf. Béclère erkannte früh die potentiellen Gefahren der neuen Strahlen und setzte sich für die Qualifizierung und Professionalisierung von Ärzten in der jungen Fachdisziplin Radiologie ein. Er forderte die Einrichtung von radiologischen Fachabteilungen an jedem Krankenhaus und die Leitung der Abteilung durch radiologisch geschulte und speziell ausgebildete Fachärzte.
Erste Schritte in der Strahlentherapie
Im Jahr 1898 wechselte Béclère an das Pariser Hospital St. Antoine, um dort das erste französische Zentrum für Radiologie an einer öffentlichen Klinik aufzubauen. Er leitete dieses Institut bis zu seiner Pensionierung. Es verband erstmals die klinische Praxis in radiologischer Diagnostik und später auch in der Strahlentherapie mit der experimentellen Laborforschung. Seine frühe Vorliebe für Immunologie und Endokrinologie hatte er jedoch mittlerweile aufgegeben und widmete sich voll und ganz der Entwicklung und Entfaltung der Radiologie.
Beeinflusst durch die Arbeiten von Guido Holzknecht (1872-1931) zu neuen Möglichkeiten zur Messung der Strahlenmenge, begann er am Hospital Saint Antoine eine Abteilung für Strahlentherapie aufzubauen und zu entwickeln. Nachdem erste kleinste Mengen Radium bereitgestellt werden konnten, bestrahlte Béclère in Pierre Curies Laboratorium zwei Patienten mit Brusttumoren. Nach Auswertung der Bestrahlungsergebnisse wies er auf die neuen therapeutischen Möglichkeiten des Radiums und seine Unterschiede zur Röntgenstrahlung hin. Strahlentherapeutische Anwendungen standen bald im Fokus seiner Aktivitäten. Mit seinen beiden Mitarbeitern Joseph AC Belot (1876-1953) und George Haret (1874-1932) veröffentlichte er 1906 einen umfassenden Bericht über die erzielten Ergebnisse der Radiotherapie, der mit dem Daudet Preis der Académie Francaise de Médicine ausgezeichnet wurde. [5]
Ehrungen und Konferenzen
Béclères besonders Engagement fand ebenso in wissenschaftlichen Kreisen Anerkennung. 1908 wurde er zum persönlichen Mitglied in die Académie Francaise de Médicine berufen. Im Jahr 1931 wurde er zum Präsidenten der Akademie ernannt. Während des ersten Weltkriegs leitete Béclère die Abteilungen für Radiologie und Physiologie am Militärkrankenhaus Val-de-Grâce in Paris. Gemeinsam mit Marie Curie half er spezielle radiologische Ambulanzfahrzeugen für den Fronteinsatz bereit zu stellen und entwickelte kompakte Schulungskurse für Militärradiologen, Krankenschwestern und Medizinstudenten. Nach dem Krieg kehrte Béclère an das Hospital Saint Antoine zurück. Hier machte er die Bekanntschaft mit Claudius Regaud (1870-1940), den er beim Aufbau der medizinischen Abteilung am Radiuminstitut der Universität Paris unterstützte. Béclère begrüßte die Initiative britischer Radiologen zur Durchführung von internationalen radiologischen Konferenzen. Beim ersten International Congress of Radiology (ICR) 1925 in London forderte er die Gründung einer „Commission on Measurements and Units“ zur Vereinheitlichung der Strahlendosen in der Strahlentherapie. Die Kommission wurde auf dem zweiten ICR 1928 in Stockholm eingesetzt und führte als erstes die Einheit „Röntgen“ als verbindliche Messgröße in die Dosimetrie ein. Der dritte ICR fand 1931 unter seiner Präsidentschaft an der Pariser Sorbonne statt.
Im April 1936 wurde der Gedenkstein für Märtyrer der Wissenschaft unter den Röntgenologen und Radiologen aller Nationen am St. Georg Krankenhaus in Hamburg feierlich enthüllt. Neben Karl Frik (1878-1944) und Herrmann Holthusen (1886-1971) hielt Antoine Béclère als internationaler Vertreter eine Ansprache an die Festversammlung. „Diese edlen Märtyrer sprachen nicht dieselbe Sprache, hatten nicht dasselbe Vaterland … Sie hatten sich alle derselben Mission verschrieben, dem Kampf gegen Krankheiten und Leiden, unter Einsatz ihres eigenen Lebens und mit Hilfe der fabelhaften Waffe, die Ihnen von Röntgen in die Hände gelegt wurde. …“ [6]
Béclères Liste an Auszeichnungen ist lang. So erhielt er u.a. die Ehrenmitgliedschaft der Deutschen Röntgengesellschaft und des American College of Radiology sowie Ehrendokorate der Universitäten Köln und Zürich. Lange noch sah man ihn in sein altes Institut gehen und mit seinen Nachfolgern diskutieren. Am 24. Februar 1939 erlitt Béclère unerwartet einen tödlichen Herzinfarkt.
Literatur
[1] vgl. del Regato JA. Radiological Oncologists. The unfolding of a medical speciality. Radiology Centennial Inc. 1993
[2] Béclère A., Oudin P, Barthèlemy T. Application de la method de röntgen à l’examend’un anévrysme de la crosse del l’aorte. Societé médicale des hôpitaux, Séance du fevrier 1897
[3] Béclère A. Les rayons de Röntgen et le diagnostic des affections thoraciques. J.-B. Baillière et fils. Paris (1901)
[4] Béclère A. Les rayons de Röntgen et le diagnostic de la tuberculose. J.-B. Baillière et fils. Paris (1899)
[5] Béclère A. Belot JAC, Haret G. Des résultats obtenus dans la traitement du cancer par l’application des rayons X . Prix Daudet de l’Académie de Médicine (1906)
[6] Holthusen H, Meyer H, Molineus W (Hrsg.). Ehrenbuch der Röntgenologen und Radiologen aller Nationen. Urban & Schwarzenberg München und Berlin 1959