INTERVIEW
„Ich will den Menschen in der Ukraine einfach helfen“
Die Ukrainerinnen und Ukrainer unterstützen – das möchte Dr. Matthias Jöckel, Radiologe in der radiomed Gemeinschaftspraxis für Radiologie und Nuklearmedizin in Mainz. Bereits vier Mal ist Dr. Jöckel mit seinem Team und einem Bus voller Hilfsgüter ins polnische Przemyśl an der ukrainischen Grenze gefahren und hat von dort ukrainische Flüchtlinge nach Mainz gebracht, darunter vor allem Frauen, Kinder und ältere Menschen. Wie genau sehen seine Hilfsaktionen aus und was ist seine Motivation? Das und vieles mehr haben wir Dr. Jöckel im Interview gefragt.
Dr. Matthias Jöckel © RadiomedDr. Jöckel, Sie helfen Menschen in der Ukraine. Was motiviert Sie?
Dr. Jöckel: Wahrscheinlich spielt das ärztliche Ethos bei meinem Engagement eine Rolle. Ohne Grund wird man ja nicht Arzt. Aber es geht nicht primär um medizinische Hilfe. Wir saßen im Februar vor dem Fernseher, als der Krieg in der Ukraine begann, und haben die existenzielle Not der Menschen dort gesehen. Uns wurde bewusst, dass wir etwas tun müssen. Die erste Fahrt in die Ukraine haben wir am 12. März unternommen. Ende Mai 2022 hat bereits unsere vierte Fahrt dorthin stattgefunden. Natürlich hat jeder private und berufliche Pflichten, aber darüber darf man die Hilfe für Andere nicht vergessen. Ich will den Menschen in der Ukraine einfach helfen.
Wie genau sieht Ihre Hilfe aus und wer unterstützt Sie dabei?
Unsere Hilfe sieht so aus, dass wir mit einem Bus voller Hilfsgüter zu einem großen Hilfszentrum fahren, das im polnischen Ort Przemyśl an der Grenze zur Ukraine liegt. Das Hilfszentrum ist ein ehemaliger Supermarkt, der umfunktioniert wurde. Dort verteilen wir die Hilfsgüter und nehmen ukrainische Flüchtlinge auf, um sie im Bus mit nach Mainz zu nehmen. Diese Hilfsaktionen haben Georg Vancura und ich initiiert. Georg Vancura ist Nuklearmediziner und mein Praxiskollege. Neben seiner Arbeit in der Praxis fährt Georg seit langem aus Spaß an der Sache regelmäßig Linienbus. Er kennt sich also mit großen Fahrzeugen und langen Strecken aus. Bis nach Przemyśl sind es 1.300 Kilometer, die man unmittelbar hintereinander zwei Mal bewältigen muss. Deshalb haben wir bei unseren Fahrten mehrere Busfahrer dabei plus Leute, die am Zentrum helfen, den Bus auszuladen sowie Dolmetscherinnen und Dolmetscher. Wir halten das Team schlank, damit wir im Bus Platz für die Flüchtlinge haben.
Bus kurz vor der Abfahrt von Mainz ins polnische Przemyśl an der Grenze zur Ukraine © PrivatWoher erhalten Sie die Hilfsgüter?
Als wir mit unserer Hilfsaktionen starteten, haben wir überall nach Spenden gefragt und dabei fast nur offene Türen eingerannt. Die Apotheke bei uns um die Ecke der Praxis zum Beispiel war sofort mit im Boot und bestellt seitdem Medikamente, die sie zum Einkaufspreis bekommt, für unsere Hilfstouren. Eine Kirchengemeinde stellt uns ihre Räumlichkeiten zur Verfügung, um die Spenden zu lagern. Bei den Spenden handelt es sich neben Geldspenden und den erwähnten Medikamenten um Konserven, Schuhe, Hygieneartikel, Babyartikel und vieles mehr. In der Kirchengemeinde können auch Spenden abgegeben werden, was prima ist, denn diese können wir im Praxisbetrieb, in der Sprechstunde, natürlich nicht entgegennehmen.
Können Sie uns Ihre Erfahrungen auf Ihren Fahrten und die Situation vor Ort schildern?
Bei unserer ersten Fahrt hatte ich ein sehr komisches Gefühl. Wir haben an der ukrainischen Grenze gefühlt ein Niemandsland betreten. Schaute man zum Horizont Richtung Ukraine, wusste man, dass es dort Krieg gibt. Zugleich war klar, dass man sich in der EU befindet und fühlte noch die Sicherheit und Geborgenheit aus Deutschland. Generell wussten wir natürlich nicht, was uns an der Grenze erwarten würde, aber das Leid, was wir dort vorfanden, hat unsere Vorstellungskraft gesprengt. Jeder von uns weiß, wie Menschen aussehen, die in existenzieller Not sind. Aber das muss man sich vervielfacht vorstellen. Es hat uns komplett umgehauen und war kaum auszuhalten.
Denkt man in solchen Momenten daran, mit der Hilfe aufzuhören?
Nein, im Gegenteil. Man denkt vielmehr, dass man einen Pendelverkehr einrichten müsste, um möglichst gut und viel zu helfen, weil es so viel Leid gibt und so viele Menschen Hilfe brauchen. Man kann von den tausenden Hilfsbedürftigen nur wenige mitnehmen und muss die anderen in einer völlig desolaten Situation zurücklassen.
Ankunft ukrainischer Flüchtlinge in Mainz © PrivatWie viele Flüchtlinge nehmen Sie pro Fahrt mit nach Mainz?
Das sind immer zwischen 50 und 60 Personen.
Wie geht es für die Flüchtlinge hier in Deutschland weiter?
Im Grunde haben wir schnell gemerkt, dass wir mit unseren Hilfstouren nur die Initialzündung sind und die Hilfe hier in Deutschland die viel intensivere ist. Wenn die Flüchtlinge hierher kommen, sind sie oft mittellos und haben wirklich nur ihren Rucksack oder eine Tasche dabei. Lesen können die Leute meist nur Kyrillisch, was eine extreme Kommunikationsbarriere ist. Das lässt sich zwar etwa mit Google Translate elegant lösen, wie wir festgestellt haben. Aber es braucht jemanden, der ihnen bei der Alltagsbewältigung hilft: Unterkunft, Gesundheitsversorgung, Behördengänge, Schule, Jobs… In Mainz haben wir ein großes privates Hilfsnetzwerk aufgebaut, über das viele Leute den Flüchtlingen durch den Alltag helfen. Meine Frau und unsere Nachbarn kümmern sich um insgesamt 14 Leute, aber wir merken, dass das auf Dauer kaum zu stemmen ist. Wir haben drei kleine Kinder. Es wird künftig wohl darauf hinauslaufen, dass man die Flüchtlinge nach Mainz holt und in einer Erstaufnahmeeinrichtung unterbringt. Vor ein paar Wochen hätten wir das niemandem gewünscht, aber es gibt kaum andere Möglichkeiten.
Wie leben sich die Flüchtlinge in Deutschland ein?
Unterschiedlich, aber insgesamt gut. Die Menschen bemühen sich, Deutsch zu lernen, sie wollen arbeiten, die Kinder zur Schule und so weiter. Auf der anderen Seite darf man nicht vergessen, was sie hinter sich haben und dass es immer nur Teile von Familien sind, die wir hier haben. Wir haben fast nur Frauen und Kinder sowie einige ältere Ehepaare. Es gibt natürlich irgendwo einen Vater, der zuhause ist und unter fragwürdigen Bedingungen ausharren oder gar kämpfen muss. Die Menschen wollen sich hier integrieren, aber sie haben ihr Päckchen zu tragen.
Sind Sie mit ihrer radiologischen Praxis in der Versorgung der Flüchtlinge involviert?
Ja. Wir haben in unserer Praxis einen onkologischen Schwerpunkt, meine Kollegin betreibt das Mammographie-Screening. Natürlich werden die Frauen aus der Ukraine, die in die Screening-Kategorie fallen, angeschrieben und sie kommen in die Praxis zum Screening. Auch betreuen wir Brustkrebspatientinnen unter den geflüchteten Frauen.
Wie kann man die Menschen in der Ukraine am besten unterstützen?
Man kann sie gut mit Geldspenden unterstützen. Was sie nicht mehr brauchen, ist nach meinem Eindruck Kleidung, aber Lebensmittel oder Hygieneartikel sind weiterhin gefragt. Was die Menschen aber am Dringendsten brauchen, ist das Engagement jedes Einzelnen. Sie brauchen Menschen, die sie im Alltag unterstützen. Wir brauchen Leute mit offenen Armen, die Zeit mitbringen. Das rarste Gut ist nicht Geld, sondern Zeit.
Herr Dr. Jöckel, wir danken Ihnen für das Gespräch!