Dr. Bigdeli : Meine erste Reise nach Nyangao im September 2019 war prägend. Die Röntgenabteilung des St. Walburg’s Hospital – einer für die Region zentralen Einrichtung – befand sich in einem alarmierenden Zustand. Das über 50 Jahre alte analoge Röntgengerät war kaum noch einsetzbar, funktionale Defizite wie eine defekte Kassettenhalterung machten grundlegende Untersuchungen unmöglich. Der Strahlenschutz war ebenfalls problematisch: beschädigte Bleischürzen, lückenhafte Abschirmungen – eine Situation, die sowohl Patienten als auch Personal gefährdete.
Und doch war das medizinische Engagement beeindruckend. Zwei Röntgenassistenten betreuten dort täglich dutzende Patientinnen und Patienten – viele von ihnen waren über Tage hinweg unterwegs, um medizinische Hilfe zu erhalten. In dieser Umgebung wurde mir deutlich, dass der Mangel an radiologischem Fachpersonal nicht nur ein logistisches Problem ist, sondern direkte Auswirkungen auf das Überleben der Menschen hat. Besonders deutlich wurde das am Beispiel der Tuberkulose: Die Erkrankung ist dort sehr präsent, die radiologischen Zeichen aber oft subtil – gerade bei atypischen oder frühen Befunden. Ohne fundierte Bildinterpretation gehen solche Fälle schlicht unter.
Mir wurde rasch klar, dass klassische Strategien – etwa durch Entsendung von Radiologinnen oder Radiologen – nur punktuell helfen können. Was in solchen Regionen gebraucht wird, ist eine skalierbare, robuste diagnostische Unterstützung. Und genau hier kommt KI ins Spiel: Während sie in unseren westlichen Gesundheitssystemen oft zur Effizienzsteigerung genutzt wird, kann sie in Ländern mit struktureller Unterversorgung eine ganz fundamentale Lücke schließen – als virtuelle Expertise in der Fläche. In Kooperation mit der Artemed Stiftung und dem Münchner Unternehmen deepc haben wir über drei Jahre hinweg daran gearbeitet, diese Idee Realität werden zu lassen. Die Röntgentechnik vor Ort wurde zunächst modernisiert – inklusive der Installation eines digitalen Systems mit verbessertem Strahlenschutz. Parallel dazu testete ich in meiner Münchner Abteilung mehrere KI-Anbieter. Letztlich fiel die Wahl auf „CXR“ vom rumänischen Startup Rayscape . Diese Software ist CE-zertifiziert, erkennt 148 thorakale Pathologien – darunter Tuberkulose – und verarbeitet sowohl stehende als auch liegende Thoraxaufnahmen .
Ein zentrales Thema war tatsächlich der Datenschutz. Auch in Tansania sind Patientenrechte zu achten – insbesondere bei cloudbasierter Bildanalyse. Gemeinsam mit deepc haben wir deshalb eine Lösung aufgesetzt, die den Anforderungen der ISO 27001:2022 entspricht. Die Plattform deepcOS übernimmt die Pseudonymisierung der Patientendaten vor Ort und überträgt die Röntgendaten verschlüsselt in die Cloud – erst dort erfolgt die Analyse durch die KI. Die Behörden waren in den Prozess aktiv eingebunden, was für die Akzeptanz entscheidend war.
Die erste Live-Schulung mit dem lokalen Team – am 9. Mai 2025 – war ein Meilenstein. Partner aus Deutschland, Rumänien und Großbritannien waren virtuell zugeschaltet. Gleich beim ersten Fall erkannte die KI eine Tuberkulose, die den nicht-radiologischen Augen entgangen war. Das war ein Aha-Moment für alle Beteiligten.
Ich glaube, das Projekt in Nyangao zeigt exemplarisch, was radiologische Expertise – unterstützt durch moderne Technologie – in der globalen Gesundheitsversorgung leisten kann. KI wird unseren Beruf nicht ersetzen. Aber sie kann dort helfen, wo wir physisch nicht präsent sein können. Sie kann Leben retten – nicht als Konkurrenz, sondern als verlängerter Arm unserer Kompetenz.
Für Radiologinnen und Radiologen in Deutschland ergibt sich daraus auch eine ethische Perspektive: Wir sind Teil einer global vernetzten Profession. Unser Wissen, unsere Technologie, unsere Standards können – und sollten – über unsere Klinikgrenzen hinauswirken. Dieses Projekt ist nur ein Beispiel dafür, wie man mit geringem Ressourceneinsatz große Wirkung erzielen kann. Ich sehe KI in der Radiologie nicht nur als Instrument zur Prozessoptimierung, sondern als Brücke in die Zukunft – lokal wie global.